Gründungs- und andere Mythen

Und? Hat geklappt mit dem Frühling, oder?

Provinzkind: Haaaaaaaaaach…jaaaaaaaaaaa…jetzt isser da!

Und wie fühlt es sich an?

Provinzkind: Als wenn man wieder neu laufen lernt. Ich traue dem Frühling ja noch nicht so ganz über den Weg. Gestern abend habe ich schon das erste Mal draußen gesessen und Bier getrunken. Es fing an zu regnen aber meine Freundin M. und ich entschieden, dass reingehen auf gar keinen Fall eine Option sein kann. Wir mussten die Wärme ganz und gar auskosten, in uns aufnehmen, um zu spüren, dass es echt ist

Wie philosophisch. Und welche Erkenntnis hat der Abend noch gebracht?

Provinzkind: Wir konnten uns nicht so ganz einigen, ob zu viel Arbeit zwangsläufig Selbstausbeutung bedeutet oder etwas mit freier Entscheidung zu tun hat. Ich plädierte für Letzteres, sie für Ersteres.

Ich würde auch sagen, Ersteres.

Provinzkind: Ich finde, wenn man etwas gerne tut, dann kann man auch durchaus zu viel davon tun. Wichtig ist ja nur, dass man zwischendurch nicht vergisst, dass es auch noch etwas anderes im Leben gibt, außer Arbeit. Was mir allerdings nie passieren könnte….

Weil Du von Natur aus faul bist?

Provinzkind: Sagen wir mal so: ich kann mich gut entspannen!

Na gut, aber ihr habt doch bestimmt nicht nur über die Arbeit geredet oder?

Provinzkind: Nein.

Nun lass Dir nicht alles aus der Nase ziehe. Was ist mit Männern?

Provinzkind: Die saßen auch draußen. Nee, im Ernst, natürlich waren die auch ein Thema.

Und?

Provinzkind: Nix und. Ich stellte die gewagte These auf, dass jede Beziehung einen Gründungsmythos braucht. M. fand das gut. Ich wiederum fand gut, wie sie  geistreiche Sätze mit dem Typen am anderen Ende des Tisches austauschte. Das konnte sie definitiv besser als ich.

Was war denn da los?

Provinzkind: Ich war müde.

Zu viel gearbeitet, hm?

Provinzkind: Hm.

Hast Du eigentlich schon Deine Steuererklärung gemacht?

Provinzkind: Man, was für’n harter Bruch…

…und hast Du?

Provinzkind: Nö. Gerade rief mich meine Freundin N. an und sagte, dass sie dieses doofe Steuerprogramm ausgefüllt hat. Am Ende sollte sie noch 40 Euro nachzahlen, obwohl sie angestellt ist und immer brav Steuern zahlt. Ihre Worte waren: das ist ja als wenn man einen schlägt und dann nochmal schlägt! Ich finde, das brachte es präzise auf den Punkt.

Scheißthema.

Provinzkind: Ja. Andererseits total wichtiges Thema, Steuern und so. Gerade jetzt, wo wir wieder 80 Milliarden Euro Schulden dazubekommen haben…

Ich mag nicht dran denken. Tu ich auch nicht.

Provinzkind: Ich auch nicht.

Fährst Du eigentlich zur Leipziger Buchmesse?

Provinzkind: Nee, keine Lust. Ich mag zwar Bücher, aber ich mag keine Messen. Da läuft man den ganzen Tag rum und isst ungesundes Zeug.

Aber willst Du nicht mal Helene Hegemann live erleben?

Provinzkind: Helene Hegemann und Lena Meyer-Landrut. Zwei Mädchen aus ein und derselben Generation. Und doch so unterschiedlich. Was mal wieder zeigt, dass es Generationen eigentlich gar nicht gibt. Und um Deine Frage zu beantworten. Nein, will ich nicht. Das arme Mädel tut mir ein bisschen leid.

Sie ist erfolgreich, hat ein gefeiertes Romandebüt (ab)geschrieben und wird vermutlich nicht wenig Kohle damit verdienen. Wozu das Mitleid?

Provinzkind: Ich glaube, sie ist einfach nur ein trauriger Teenager. Bei den meisten geht das vorbei. Bei ihr bin ich mir da nicht so sicher.

Und jetzt?

Provinzkind: Ja, der Himmel zieht sich gerade zu. Dabei wollte ich heute das erste Mal im Jahr ein paar Runde laufen. Jetzt bleibt mir nur noch putzen. Ich wusste doch, dass das mit dem Frühling nicht….

….man jetzt hör doch mal auf, übers Wetter zu reden!

Provinzkind: Ja, ist ja schon gut.

Na dann, bis dann.

Provinzkind: Bis dann.

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"Überall Phtalate!"

Welche Worte fallen Dir ein, wenn Du an die letzte Woche denkst?

Provinzkind: Griechenland, Westerwelle, katholische Kirche, Frauentag…

Ach ja, der Frauentag. Das ist der Tag, an dem die Dauerbeschallung auf allen Kanälen über die schlimme Ungerechtigkeit gegenüber den Frauen dieser Welt ihren Höhepunkt erreicht, stimmts?

Provinzkind: So könnte man das sagen, ja.

Und wie oft sollen wir uns das noch reinziehen?

Provinzkind: Bis es echte Gleichberechtigung gibt, zum Beispiel. Wäre mein Vorschlag! Wie weit es bis dahin noch ist, kann man etwa hier lesen. Und noch was Interessantes gibts zu dem Thema: Diskriminierung fängt oft dann an, wenn Frau Kinder bekommt.

Reden wir doch über Griechenland…

Provinzkind: Soll ein schönes Land sein. Leider war ich noch nie da.

Ja schön und ganz schön pleite.

Provinzkind: Habe ich auch gehört. Und dass das schlimm für den Euro ist und überhaupt und so. Aber wer ist eigentlich Schuld daran? Die Griechen selbst? Oder die Spekulanten? Der Olymp?

Lesen soll ja bilden.

Provinzkind: Ach hätte ich doch nur die Zeit oder das iPhone dazu…

Was war denn gut in der vergangenen Woche?

Provinzkind: Die netten Menschen im Rheinland. Und zwar in Düsseldorf und Köln. Sehr sympatisch, wenn natürlich auch überaus provinziell…

Provinziell? Düsseldorf ist die Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens – des bevölkerungsreichsten Bundeslandes! Da wohnen fast 600 000 Menschen, in Köln sogar eine knappe Million. Findest Du das nicht ein bisschen arrogant?

Provinzkind: Ja stimmt, von der Größe her brauchen sich die beiden nicht verstecken. Aber seit wann ist denn die Größe das Entscheidende? Kuck mal, hier in Berlin ist es dreckig, verwahrlost, miefig und die Menschen sind absolut beschissen drauf. So muss eine Großstadt sein!

Ja und dann regt sich jeder darüber auf, wie dreckig und verwahrlost und miefig es hier ist und wie beschissen die Menschen drauf sind. Auch das ist ja wiederum sehr provinziell…

Provinzkind: Gut beobachtet!

Und wie gehts sonst so?

Provinzkind: Och ich weiß nicht, keine Ahnung, überall Phtalate…und ich so: voll genervt!

Wie bitte?

Provinzkind: Stammt aus einem Molière-Stück, das Peter Licht am Gorki-Theater inszeniert hat. In etwa so anstrengend wie eine Dauerlesung von „Axolotl Roadkill“. Eine überaus effektive Foltermethode.

Und was kommt gibt es nächste Woche?

Provinzkind: Vermutlich wieder viel zu viel von allem. Und hoffentlich auch mal ein kleines bisschen Frühling.

Na dann, bis dann!

Provinzkind: Bis dann.

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Best of Provinz – Thomas Trappe

Gerade erst entdeckt. Und fast ohne Neid muss ich mal wieder anerkennen, dass Thomas Trappe als Provinzkind einen zigfach besseren Job macht, als ich. Er sitzt nämlich wirklich mitten drin und was er da so erzählt, reicht mindestens für ein Buch, wenn nicht gar eine ganze Bibliothek. Ich denke, es ist eine Frage der Zeit, bis Herr Suhrkamp o.ä. bei ihm anklopfen.

Hier geht es um eine ganz liebenswürdige Eigenart deutscher Provinzkultur – den Dorfkarneval. Möge der Wettergott es gut mit uns meinen und das Lesen ein voller Erfolg werden!

Nach Studie mehrerer bundesweiter Karnevalsberichte der vergangenen Tage stelle ich den folgenden von mir großzügig erstellten Text kostenlos zum Kopieren zur Verfügung. Der geneigte Lokaljournalist spart Zeit, das Ergebnis ist das Gleiche, so mein Versprechen. Keine Scham, greifen Sie zu, ich hab noch mehr davon.

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Sonntag

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Halbe Sachen

Wenn man nur einen Moment dazu kommt, darüber nachzudenken, was man so macht, kommt man eigentlich zwangsläufig zu dem Schluss, dass man es besser machen müsste. Schließlich hatte man es sich doch irgendwann mal alles ganz anders vorgestellt, oder etwa nicht? Und nun ist es so wie es ist und es ist auch gut so aber vielleicht könnte ja alles noch ein bisschen besser sein, wenn man sich nur noch ein bisschen mehr anstrengen würde. Wie viele Punkte fehlen wohl bis 100 Prozent?

„Keine halben Sachen, keine Kompromisse.“ In einer Welt, in der man sogar an Bier solche Ansprüche erhebt, ist es schwer, seine Erwartungen an sich selbst auf einem halbwegs gesunden Level zu halten.

Und immer sind da die anderen. Die, die schon so viel mehr geschafft haben als man selbst. Und das, obwohl sie dazu genauso viel oder sogar weniger Zeit hatten. Haben sie einfach mehr getan? Vielleicht weniger geschlafen? Hat ihnen jemand geholfen?

Oder sind sie einfach talentierter, begabter?

Aber wie ist das eigentlich mit jenen, die so viel schaffen? Sind sie stolz auf sich? Oder denken sie auch immernoch, sich ständig optimieren zu müssen? Hat man denn je die 100 Prozent erreicht? Auf Erfolgen soll man sich nicht ausruhen, sagt ein Sprichwort. Ein anderes sagt, wer rastet, der rostet. Ist nur dem Rasenden das Paradies bestimmt?

Aber wo bleibt dann die Gelassenheit. Die Gabe, das Leben zu nehmen, wie es kommt. Eine angenehme Eigenschaft von Menschen, die wirklich groß sind. Nicht nur äußerlich, auch innerlich. Auch sie haben sich irgendwann mal selbst optimiert. Das ist eine schöne Sache. Sich nicht immer nur an dem abzuarbeiten, was man tut. Sondern auch an dem, was man ist.

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Der Fußweg vor meinem Haus

Vor vier Wochen: flopp, flopp, plopp, bob, pup, pop, flip, flop…

Vor drei Wochen: knrrrsch, knärrrsch, krrrrrrschhheeeeeee…bumm

Vor zwei Wochen: rrrrtsch, bumm….schllllf, schlllf, schlllf, bumm…tapp tapp tapp…

Vor einer Woche: flllltsch, platsch, knntsch, gluck, flatsch, platschschschsch…

Heute: klack, klack, klack, knartsch, klack, knartsch, krrrtsch, klack…

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Weltuntergang und Weltherrschaft

Dieses Blog hat einen Relaunch erlebt und ist anschließend in plötzlicher Lethargie erstarrt.

Die Sache ist die, dass ich in den letzten Wochen eine gewisse Form der Medienmüdigkeit gespürt habe. Ich habe mich dem Internet und seinem ständigen Informationsfluss verweigert. Übersättigt wie eine fette Katze. Verpasst habe ich dabei so gut wie nichts.

Außer vielleicht das:

Der Weltuntergang ist nah. Spätrömische Dekadenz heißt das bei Westerwelle. Die Angst des weißen Mannes bei Peter Scholl-Latour. Verweichlichung, Angst vorm Krieg und mangelnde Leistungsbereitschaft sind die Eigenschaften, die uns nochmal so richtig den Tag versauen werden.

Was ich mich dabei frage: wie groß ist das Informationsvakuum in diesen Tagen, dass es Westerwelle mit solchen Sprüchen auf die Top 5 der Nachrichtenliste schafft? Wie groß der Mangel an noch lebenden Denkern, dass es Peter Scholl-Latour immernoch in die Bestsellerliste bringt?

Helene Hegemann. Ja, die lebt noch. Quicklebendig, die kleine Abschreiberin. Der Roman ist Schrott. Versuche gerade, ihn zu lesen, komme aber nie weit. Verschwurbelte Sätze aus einem verquasten Teenagerkopf. Dass sie für ihr Alter sehr reife Gedanken hat, daran zweifle ich zwar nicht. Und natürlich hat sie nicht alles abgeschrieben – oder doch? Zum Urheberrecht hat sie jedenfalls eine eigentümliche Meinung. Dass sie die unbehelligt überall äußern darf, ist aber nicht ihre Schuld. Mein Gott, das Mädel ist noch nicht mal volljährig ist gerade 18 geworden und soll Verantwortung für diesen völlig übertriebenen Medienhype übernehmen. Wer wäre da nicht überfordert?!

Aber wie gesagt. Es herrscht da offenbar ein Mangel in vielen gesellschaftlichen Sphären. Kunst, Politik, Sport. Ja auch Sport. Wenn nicht gerade Olympia ist, steigen Greise abwechslungsweise zurück in den Boxring oder in den Ferrari (oder Mercedes?)

Es fehlt an Helden.

Neulich ging ich mal auf die Seite der Bundeskanzlerin, nur um mal zu sehen, was sie so macht. Sie drückte dem deutschen Team in Vancouver die Daumen. Und sie hielt einen Podcast zur Berlinale. Und alle so: Yeah!

Um beim Bild des Vakuums zu bleiben: ich glaube, es besteht da eine große Sehnsucht nach Führung in diesem Land. Ein Führungsvakuum sozusagen. Eine gute Zeit, um die Macht an sich zu reißen. Die Weltherrschaft zu erlangen. Alles, was man dazu bräuchte, wäre eine große Fresse. Viel reden, nix tun.

Und seitdem mir das klar geworden ist, übe ich jeden Morgen eine Stunde Demagogie vorm Spiegel.

Ihr werdet von mir hören. :*

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How to look like a hip and urban person in five minutes

1. Nimm eine Kamera, die komische Bilder macht. Handy, Einmalwegwerfkamera oder Polaroid. Die Farben müssen unwirklich aussehen. Wenn das nicht geht, stelle Deine Stino-Kamera auf Schwarz-Weiß um.

2. Wenn Du jemanden hast, der Dich fotografieren kann, versorge ihn mit genauen Anweisungen. Wenn Du Dich selbst fotografieren willst, brauchst Du ein Stativ oder einen langen Arm.

3. Mach ein paar Probeschüsse und finde heraus, welcher Teil Deines Gesichtes am geheimnisvollsten aussieht. Augen? Mund? Nase? Merke: Ohren sind zwar ein oft unterschätztes Körperteil. Aber nur wenige sind mit schönen Ohren gesegnet. Sie herauszustellen macht nur Sinn, wenn sie von außergewöhnlichem Schmuck oder einem Tattoo aufgewertet werden. Haarsträhnen, die das Ohr locker umschmeicheln, gehen auch.

4. Wenn Du eine Frau bist: bloß nicht beim Kajal sparen, Augenbrauen präzise zupfen, Lippenstift nur in Ausnahmefällen. Wenn Du ein Mann bist: Dreitagebart!

5. Trage einen dicken Schal oder eine Sonnenbrille. Verwuschel Deine Haare so, dass die Hälfte davon im Gesicht rumhängt.

6. Schaue irgendwie traurig oder sehnsuchtsvoll. Wenn das doof aussieht, versuche es mal mit einem herausfordernden Blick. Gut macht sich ein Blick durch eine Fesnterscheibe – draußen muss es aber regnen oder zumindest muss der Fernsehturm zu sehen sein!

7. Kuck in irgendeine Ecke. Entweder von oben links nach unten rechts oder umgekehrt. Schau nicht direkt in die Kamera, es sei denn, Du übst den herausfordernden Blick – dann bitte die Wangen einziehen, so dass Du ein bisschen unterernährt aussiehst.

8. Eine Hand im Gesicht macht sich immer gut, unterstreicht Deine Nachdenklichkeit und zeigt, dass Du ein geheimnisvoller Mensch mit Tiefgang bist.

9. Kopfhörer, Zigaretten, Katzen: Accessoires sind erlaubt!

10. Abdrücken, bearbeiten und bei Facebook, Twitter etc. uploaden. Mindestens einmal pro Woche!

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Böse Menschen auf der Straße

Menschen, die dich auf der Straße anquatschen sind böse! Sie sind die Ursuppe der Boshaftigkeit, direkt dem Hause Satans entsprungen.

Nein, ich rede nicht von armen, ahnungslosen Touristen, die einen nach dem Weg fragen. Auch nicht Obdachlose, die mir ’ne Zeitung verkaufen wollen. Ich rede von Leuten, die mit selbstgebastelten Wandzeitungen, die sie zu einem Stand zusammengezimmert haben in Fußgängerzonen oder auf Fußwegen stehen und gezielt Leute anquatschen, die aussehen, als würden sie sich bequatschen lassen. Ihr einziges Ziel ist es, diesen Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Zum Beispiel der Büso-Typ vor der Post in Pankow. Wenn Du das hier liest, Büso-Typ, das geht an Dich. Du bist ne janz fiese Möpp! Würde noch ganz andere Bezeichnungen für Dich finden, aber ich bin mir nicht sicher, wie das mit öffentlichen Beleidigungen so ist.

Der Büso-Typ vor der Pankower Post hat seinen Standort strategisch gewählt. Hier laufen Horden von Menschen vorbei, die vom Winter und vom System sowieso die Schnauze voll haben. Sie sind entweder die letzten zehn Jahre arbeitslos gewesen oder urlaubsreif. Die allermeisten aber sind Rentner. Blasse Rentner in dicken beigefarben Jacken und mit Plastiktüten voller Ein-Euro-Schnäppchen. Die sind seine Zielgruppe. Die fragt er, ob sie eigentlich schon wüssten, dass heutztage alles so schlimm sei.

Er redet von der sozialen Ungleichheit unserer Gesellschaft, von der nächsten Finanzblase, die bald platzt, von der Inflation, von Hunger und Not, die uns allen drohen, von dummen Menschen im Bundestag, von der Jugend, die sich nicht mehr engagiert und unpolitisch ist, ja die in den Universitäten verdummt wird, von der Ästhetik des Humanismus und von Obama, der sowieso schlimmer ist als Hitler und Stalin zusammen.

Mit seiner Masche wickelt er fast jeden Rentner vor der Pankower Post ein. Er redet einfach so lange auf sie ein, bis sie sich nicht mehr wehren können. Dann sagt er ihnen, sie sollen Zeitungen und Bücher kaufen und natürlich spenden. Für die Büso. Weil das die einzigen sind, die nicht von der Lobby gesponsert werden und die ihre Interessen – nämlich die der Pankower Bürger – vertreten. Und die Rentner kaufen und spenden. Weil sie nämlich nicht anders können. Weil sie ihm nämlich recht geben müssen, dem gebildeten jungen Mann dort vor der Post. Der einzige seiner Generation, der sich noch für die Zukunft einsetzt.

Und das ist böse! Ich habe es erlebt. Er hat mich angequatscht. Ich wollte weitergehen, doch ich war nicht allein unterwegs. Meine Oma war bei mir. Und sie hat eine Schwäche für selbsternannte Sozialkritiker und Weltenretter. So wie vermutlich viele in ihrer Generation. Ich wollte sie weiterziehen, aber sie blieb stehen. Und damit waren wir gefangen in diesem widerlichen Kokon aus Parolen und Gedöns. Und ich rollte nur mit den Augen, aber je mehr er merkte, dass bei mir nichts zu holen war, desto mehr konzentrierte er sich auf meine Oma. Bis sie ihr Portemonnaie zückte. Und ich sagte ihr, steck es wieder ein. Aber sie wollte diese Zeitung da kaufen. Und weil sie kein Kleingeld hatte, kaufte ich die Zeitung.

Und hinterher hätte ich mich ohrfeigen können dafür. Weil mir bewusst wurde, was für eine eklige Masche das ist. Diese Leute sind ja dafür ausgebildet, einen so lange zuzutexten, bis man sich quasi nur noch freikaufen kann. Für jedes Argument hat er ein Gegenargument. Das ist trainiert. Und er will weder die Welt retten, noch sonst irgendwas. Er will alte Leute abzocken.

In Leipzig standen alle Nase lang solche Typen in der Fußgängerzone rum. Da habe ich gelernt, schnell vorbei zu gehen und mich von niemandem, aber wirklich NIEMANDEM anquatschen zu lassen. Außer von Touristen. Und von Obdachlosen, die mir ’ne Zeitung verkaufen wollen (obwohl, meistens sagen die ja gar nichts). Aber niemals von so Leuten, die so tun als seien sie irgendwie wohltätig. Die lügen nämlich. Immer! Und deshalb:

Fragt mich nicht, ob ich über den Tierschutz reden will. Fragt mich nicht, ob ich eigentlich schon wüsste, dass ich vom Staat überwacht werde. Fragt mich nicht, ob mir bewusst sei, dass diese Bundesregierung meine Zukunft verzockt. Fragt mich einfach NICHTS. Quatscht mich nicht an. Nie! Zu keinem Zeitpunkt!

Wenn ich mit euch reden will, dann ruf ich euch an! Nummer kann ich ja googeln.

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Bitte wenden! (Part Two)

Die sehr junge Autorin Andrea Hünniger hat in einer der letzten Ausgaben der FAS über ihre Erinnerungen an die Wende geschrieben und das hat mich sehr daran erinnert, wie ich es auch erlebt habe. Besonders dieser Satz ähnelt meinem Empfinden:

Das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass die Zeit nach dem Fall der Mauer eine prägende Erfahrung der Trauer und des Schweigens war.

Die Autorin war damals fünf Jahre alt, schreibt sie. Also noch drei Jahre jünger als ich. Ich halte es für wenig glaubwürdig, dass sie sich wirklich noch an so viele Einzelheiten erinnern kann, aber das Grundgefühl, das wird sie verinnerlicht haben. Sie ist offenbar eine scharfe Beobachterin unserer Zeit und sie hat die Schlussfolgerungen, die sie im Laufe ihres Lebens gewonnen hat vielleicht einfach ein paar Jahre zurück datiert. Aber darum geht es gar nicht.

Es geht darum, dass sie meine bislang eher dumpfe Vermutung bestätigt, dass über die DDR und die Wendezeit eben noch nicht alles gesagt worden ist. Das vergangene Jahr hat uns zwar mit einer mediale Lawine aus Vergangenheitskitsch und einem Kessel bunter DDR-Geschichte überrollt. Aber es hat es auch wieder mal nicht geschafft, all die uneindeutigen Grautöne, all die schwierigen Befindlichkeiten und Schicksale, all das Unordentliche, was dieser Mauerfall in diesem Land hinterlassen hat, zu beschreiben. Dafür sind Medien mit ihrer Eigenschaft der Reduktion von Komplexität vielleicht auch etwas überfordert. Eine journalistische Geschichte sieht nunmal so aus: ein größerer, geschichtlicher Zusammenhang wird am Schicksal einzelner Protagonisten erzählt, die exemplarisch fürs Ganze stehen. Ihre Gefühle spiegeln die Gefühlslage des ganzen Landes.

Welche Gefühle aber zeigt man, wenn man über die Wende spricht und das, was danach kam? Der Zusammenbruch eines Systems, an das einige geglaubt haben und mit dem der überwiegende Teil sich arrangiert hatte. Die plötzliche Umdeutung der Geschichte. Der Eindruck, dass man selbst und seine Erfahrungen plötzlich nicht mehr interessant sind. Die Rechthaberei, die westdeutsche Deutungshoheit, das Gefühl, irgendetwas läuft hier falsch, aber nicht genau benennen zu können, was das eigentlich ist. Die Arbeitslosigkeit, die Abwanderung, der Verlust von Hoffnungen. Wie bringt man das in einen Zwei-Minuten-Fernsehbeitrag?

Und wenn man es irgendwie unterbringen und beschreiben könnte, dann stünden sofort wieder diejenigen auf dem Plan, die das als unzulässig verdammen. Die mit eifrig erhobenen Zeigefingern an die Opfer und Untaten dieses Staates erinnern und jede Diskussion darüber, ob man aus der Geschichte etwas lernen kann, im Keim ersticken. Auch Andrea Hünnigers Schilderungen provozierten erregte Leserbriefreaktionen, die ihr Verharmlosung vorwarfen. Dabei erzählte sie lediglich die Geschichte von ihren Empfindungen und der neuen, schweigenden Mauer, die heute sie und ihre Eltern, insbesondere den Vater, voneinander trennt. Verharmlost hat sie nichts. Nur versucht, zu verstehen.

Es ist da etwas kaputt gegangen mit dem Abriss der Mauer. Es ist etwas in der Generation unserer Eltern verloren gegangen und wir können es ignorieren und es als für immer unter Verlust verbuchen. Ich glaube aber, dass uns das nicht guttun wird. Denn offene Fragen verfolgen einen nicht nur bis zur nächsten Familienfeier. Sie verfolgen einen das ganze Leben.

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