Über das Kämpfen

Ein Mensch, der sehr wichtig für mich ist, auch wenn ich ihn nie besonders gut gekannt habe, hat vor vielen Jahren mal zu mir gesagt: „Ich habe in meinem Leben den Fehler gemacht, dass ich zu selten gekämpft habe.“ Es war eine Aussage, die ich damals noch nicht so richtig einordnen konnte. Heute verstehe ich, was er damit meinte.

Wenn wir erwachsen werden, müssen wir lernen, eigene Entscheidungen zu treffen. Eine dieser Entscheidungen ist die, um eine Sache zu kämpfen oder sie aufzugeben. Diese Entscheidung begleitet uns unser ganzes Leben, immer wieder kommen wir in Situationen, wo es darum geht. Als Kind war es einfach, zu kämpfen. Man kämpfte mit Schreien und Tränen um alles, was man haben wollte. Man kämpfte um Aufmerksamkeit, Freiheit und Spielzeug – mit den Eltern, den Geschwistern, den anderen Kindern. Die Kämpfe heute ähneln denen aus der Kindheit. Es geht immernoch um materiellen Besitz, Freiheit und die Zuneigung anderer Menschen. Oder um Geld, mit dem man sich all die anderen Dinge kaufen kann. Nur die Mittel, die wir heute nutzen, sind subtiler. Mit Schreien und Tränen lässt sich selten etwas erreichen.

Worum kämpfen wir? Wir kämpfen nicht um Dinge, die uns egal sind. Und wir kämpfen nicht um Dinge, die wir einfach so bekommen. Wir kämpfen um Dinge, die wir unbedingt wollen und die wir im Moment nicht haben können. Der Kampf soll dazu führen, dass wir sie bekommen. Manchmal kämpfen wir einzig und allein um Dinge, weil wir sie nicht bekommen können. Wenn wir sie dann haben, sind sie uns plötzlich nicht mal mehr halb so wichtig.

Wenn man die Weltgeschichte aufschlagen würde und die Kämpfe aller Menschen, seien sie emotional oder existentiell, in zwei Waagschalen werfen würde, würde die Seite mit den gescheiterten Kämpfen sicher nach unten schnellen, weil ihr Gewicht so groß ist. Die Seite mit den gelungenen Kämpfen, an deren Ende der Lohn steht, würde dagegen nach oben fliegen. Schlägt man die Geschichte seines eigenen Lebens auf, sähe es wohl ähnlich aus. Die Erfahrung des Scheiterns ist schmerzhaft und frustrierend. Doch sie ist nicht die einzige, die uns zögern lässt. Es gibt nämlich noch eine Erfahrung, die für das Kämpfen mindestens ebenso giftig ist. Es ist die Erfahrung, Kämpfe gewonnen zu haben, an deren Ende die Enttäuschung über das Erkämpfte stand. In denen es nur darum ging, zu bekommen, nicht aber, zu haben.

So wird jeder weitere Kampf zu einer immer schwerer zu treffenden Entscheidung darüber, ob Kosten und Nutzen in einer hinnehmbaren Relation zueinander stehen. Auf der einen Seite steht dann der Kampf und der damit verbundene Lohn – von dem man nicht mal sicher sein kann, ob man ihn überhaupt zu schätzen weiß. Auf der anderen stehen Stolz, Trägheit oder Angst. Kein Wunder,  dass mit zunehmendem Alter die Hemmnisse immer größer werden, einen Kampf überhaupt einzugehen.

Und deshalb gibt es noch ein anderes Gewicht, das man auf die Waage legen kann. Es sind all die Kämpfe, die nie geführt wurden. Egal auf welche Seite man sie legen würde, diese Waagschale würde sich schwer in den Boden rammen. Die nicht geführten Kämpfe wiegen schwerer als alles andere. Und das war es, so glaube ich, was dieser Mensch mir damals sagen wollte. Wenn sich im Rückblick auf Dein Leben die nicht geführten Kämpfe wie ein Schatten über die Erinnerungen legen und alles andere überlagern – dann hast Du irgendwas falsch gemacht.

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