Immer zweimal mehr krank als wie Du!

Berlin ist krank! Behauptet Volker Zastrow in der aktuellen FAS. Woran er das festmacht? Nun, zum Beispiel an der Zahl der anonymen Bestattungen in der Hauptstadt. Sie nähere sich den 50 Prozent. Das heißt, dass beinahe jeder zweite, der hier stirbt, niemanden hat, der um ihn trauert. Könnte man denken. Richtig ist wohl eher, dass sich fast jeder zweite keine Namensbestattung mehr leisten kann. Die ist nämlich bedeutend teuerer als eine anonyme Bestattung, die die preiswertestes Form ist, um ins Grab zu kommen. Sagt wiederum Wikipedia.

Volker Zastrows Text zeigt lediglich, dass hier ein Provinzler am Werk ist, der mit einer Mischung aus Ekel und Faszination aus 500 Kilometern Entfernung auf Berlin schaut. Die Einsamkeit und Anonymität, die sprichwörtliche, wird einer Großstadt ja gern nachgesagt. Omas vermodern monatelang in ihrer Wohnung vor sich hin, man kennt das ja von RTL. Als würde in Frankfurt (am Main) jeder seine Nachbarn kennen und sich die Menschen täglich seelig an den Händen fassen, um gemeinsam durch die Straßen zu tanzen.

Das Verstörende an Zastrows Artikel ist allerdings, dass er Thilo Sarrazin, Berliner Finanzsenator a.D., als Kronzeugen für die angebliche Verderbtheit Berlins anführt. Er klatscht dem Neufrankfurter, der mit seiner großen Klappe und seinen Äußerungen über „Kopftuchmädchen“ bereits dafür gesorgt hat, dass er bei der Bundesbank entmachtet wurde, Beifall:

Berlin kann sich aus eigener Kraft nicht erheben, das ist nicht bloß Sarrazins These, es ist Realität. Von den knapp 30 Milliarden, die Berlin im Jahr ausgibt, stammen acht aus Mitteln des Bundes und der anderen Länder, zwei davon gehen für Zinsen drauf; ein erheblicher Teil des gewaltigen Haushalts der unproduktiven Stadt ernährt beträchtliche Teile der Stadtbevölkerung. Berlin ist ein maßgebliches Hindernis nicht nur für die eigene Haushaltssanierung, sondern auch für die anderer Länder.

Berlin-Bashing fetzt. Was sonst soll man einer Stadt auch entgegenbringen, mit der man nicht ansatzweise konkurrieren kann, weil es einem an Kreativität, Gelassenheit, Lebenslust, Geschichte, Landschaft und Architektur fehlt? Da bleibt einem ja gar nichts anderes übrig, als aufgedreht wie ein Duracelhäschen im eleganten Hugo-Boss-Anzug durch die hässlichen Straßen zu springen, immer den Fortschritt im Fokus, das schnelle Geld in der Tasche und immer eine Produktivitätsstufe voraus.

Wenn ich so wäre, würde ich mich auch über die faulen Berliner aufregen, die in ihrer Hängematte rumliegen, sich innovativ fühlen und sich ihren Latte Macchiato vom Amt bezahlen lassen. Die mit Turnschuhen, Jogginghosen und bunten Kopfhörern durch die Innenstadt laufen und sich dabei auch noch cool vorkommen. Eine Stadt, deren Wirtschaftspotential zu 20 Prozent aus Kreativität besteht, kann ja nichts Vernünftiges zustande bringen. Und eine Stadt, in der die Menschen gern leben, muss Unheil mit sich bringen. Da müssen verdorbene Kräfte im Untergrund am Werk sein. Das Leben ist schließlich nicht zum Spaß gemacht.

Aber ich bin nicht so. Ich bin unproduktiv – so wie die meisten Berliner. Ich steuere dem Bruttosozialprodukt nur wenig bei, ich wurstele mehr oder weniger kreativ so vor mich hin und ich bin sogar der Meinung, dass Produktivitätssteigerung nicht das ist, was Deutschland braucht. Jedenfalls nicht an erster Stelle. Ich bin so wie man sagt, dass die Menschen in Berlin sind. Dass ich einsam sterben werde, glaube ich aber trotzdem nicht. Denn meine Freundschaften und meine Familie vernachlässigen – das würde mir vor lauter Produktivität vielleicht in Frankfurt (am Main) passieren.  In Berlin ist die Gefahr da nicht so groß.

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