Bitte Wenden!

Als ich acht Jahre alt war lernte ich ein neues Wort. Es hieß Demo. Kein Tag an dem nicht irgendwo von irgendeiner Demo die Rede war. Ich hatte keine Ahnung, was das war und es fand sich auch niemand, der es mir plausibel erklären konnte. Überhaupt geschahen mysteriöse Dinge in der Zeit.

Zu Hause lief der Fernseher öfter als sonst. Einmal sah ich, dass Menschen auf einer Mauer standen. Es war schon dunkel draußen. Es muss Silvester gewesen sein, sonst hätte ich wohl nicht so lange aufbleiben dürfen. Außerdem stiegen dort wo die Menschen standen Feuerwerksraketen in den Himmel. Ein großes Tor ragte hinter der Kulisse empor und auf diesem Tor waren Pferde.

Die Lehrerin fragte in der Schule, ob jemand wisse, was  passiert sei. Ich meldete mich und erzählte, was ich im Fernsehen gesehen hatte. Die Lehrerin lobte mich und erklärte uns, was das zu bedeuten habe. Wir verstanden es auch danach nicht, aber wir spürten, dass das hier wichtig etwas wichtiges war.

Irgendwas lag in den nächsten Monaten in der Luft. Die Erwachsenen waren noch viel mehr mit sich selbst beschäftigt als sonst. Es schien als würden sie einander plötzlich alle misstrauen. Die Stimmung schien insgesamt schlechter geworden zu sein. Die Lehrerin in der Schule war nervös. Sie sagte, jemand habe etwas über sie erzählt, was nicht wahr sei. Sollten wir unsere Eltern davon reden hören, sollten wir ihnen das sagen. Das es nicht stimmt, was über sie erzählt wird. Ich wusste nicht wovon sie sprach aber ich glaubte ihr. Ich war fest entschlossen, meine Lehrerin vor jedem zu verteidigen, der falsch Zeugnis über sie redete.

Und dann sagte meine Schulfreundin plötzlich, dass sie mit ihren Eltern wegzieht. In den Westen. Ich war traurig und neidisch. Meine Freundin versprach mir, Pakete aus dem Westen zu schicken mit Überraschungseiern und bunten Stiften. Nachdem sie weg war habe ich nie wieder von ihr gehört. Zu Hause schmipfte mein Vater jetzt manchmal über andere. Über Kollegen oder Leute, die bisher seine Freunde waren. „Wendehälse“ nannte er sie.

Und dann verwandelten sich plötzlich von einem Tag auf den anderen die Schaufenster in den Läden. Eine gigantische neonfarbene Kiste „Sunil“ prunkte aus einem Dorfkonsum hervor. Neonfarben wurden meine Lieblingsfarben.

Heute feiern die Menschen im Fernsehen wieder. Sie feiern die Ereignisse von damals. Sie sagen, es sei ein großes Glück gewesen, als die Mauer fiel. Ich finde das auch. Heute im Nachhinein betrachtet. Nur damals habe ich leider nichts von diesem großen Glück gespürt. Für mich war die Wendezeit eine Zeit voller Verwirrung und ungeklärter Fragen. Eine Zeit, in der Menschen plötzlich gingen und nie wiederkehrten. Eine Zeit, in der Menschen schlecht über andere redeten. Eine Zeit, in der plötzlich alles anders war.

Es war auch eine Zeit der subtilen Angst. Der Angst davor, dass etwas unwiderbringlich verloren war. Ich wünschte, ich wäre damals älter und klüger gewesen.

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